Schau mal wieder genau hin
Mit Begeisterung erzählst du von deiner Reise nach New York City und von all den erstaunlichen Dingen, die du dort gesehen hast. Von den reflektierenden Fassaden in den Himmel ragender Gebäude aus Stahl, neben denen sich eine kleine Kirche oder ein dreistöckiges Haus wie verloren ausmachten. Von einem quietschbunten Fenster eines Süßwarenherstellers, dessen aufgetürmte Schokolinsen drei Fußballmannschaften und ihre Fans satt gemacht hätten. Vom Duft der Zimtkringelverkaufsstände, der sich noch fünf Blöcke weiter zu halten schien. Von den schnurgeraden Straßen Manhattans, die von oben so aussahen, als hätte jemand ein riesiges Stück kariertes Papier ausgelegt und die Linien einfach nachgezogen. Vom Washington Square Park, den du als so klein empfandst, dass du dich wundertest, dass er einen eigenen Namen verdient hat. Von den vielen Kaffeehäusern mit ihren komischen Spezialgetränken, aber ohne anständigen Kaffee. Von der imposanten Architektur und den vielen Kunstwerken der Cathedral of Saint John the Divine. Und so weiter. Und so fort.
Das hört sich ja alles ganz wunderbar an, aber wann hast du das letzte Mal deine eigene Stadt mit denselben Augen angesehen, die in NYC so offen und aufnahmefähig waren? Wann hast du mit der Nase die Gerüche in deiner Umgebung wahrgenommen? Wann hast du dich an der Architektur und den feinen Details gewöhnlicher Wohnhäuser ergötzt? Viele zieht es in die Ferne, damit sie dort alles in sich aufnehmen können: Farben, Düfte, Gebäude, Landschaften, Schaufenster, Blumen, Wasserspiele, Bäume, Anzeigetafeln, Kleines und Großes. Eifrig saugen sie jede Erfahrung in sich auf, knipsen eine Unmenge Fotos und versuchen sich an den seltsamsten Speisen. Kein Detail ist zu winzig, um nicht voller Enthusiasmus analysiert und katalogisiert zu werden. Dabei scheinen diese Menschen zu übersehen, dass sie für all das überhaupt nicht verreisen müssen. Es genügt, vor die eigene Haustür zu treten und im eigenen Viertel spazieren zu gehen.
In deiner unmittelbaren Nachbarschaft gibt es mindestens genauso viele schöne Dinge zu entdecken wie in NYC. Und es muss nicht mal etwas Großartiges oder Umwerfendes sein. Vielleicht ist es ein Eiscafé, das du noch nicht ausprobiert hast. Eine Gasse, die du noch nie langgegangen bist, weil sie scheinbar nirgendwohin führt. Eine halb überwucherte Bank in einem gemütlichen Park voller alter Bäume. Die schmucken Giebel an den Häusern in der Parallelstraße. Eine Blume, die du noch nie gesehen hast. Oder nicht mal eine neue Blume, sondern einfach nur eine, die du sonst übersiehst. Weil du nicht hinsiehst. Wie dieses zarte Kraut da zwischen den Fliesen auf deinem Heimweg.
Die Welt ist vielfältig, bunt, anregend, erstaunlich, bezaubernd, wunderschön! Du musst nur die Augen aufmachen und hinsehen. Sonst verpasst du vielleicht das Wichtigste: Dass du hier bist und diesen Moment erleben darfst.